| CARVIEW |
Im Roman „Kindeswohl“ von Ian McEwan geht es unter anderem um eine Familie, die Zeugen Jehovas sind. Der leukämiekranke 17jährigen Sohn lehnt, unterstützt von seinen Eltern, eine Bluttransfusion ab. Damit ist Adam vom Tode bedroht.
Wie verhält es sich wirklich mit der Bluttransfusion bei den Zeugen? Gibt es Alternativen? Dieser Frage und anderen Themen der Glaubensgemeinschaft wollte Frank nachgehen und vereinbarte ein Treffen mit dem Ehepaar Knoll am Mittwoch, den 18.06.2025. Dazu lud er in seinen wunderschönen Garten ein. Ich durfte dabei sein. Frank als Gastgeber bewirtete uns mit Bäckerkuchen und Kaffee. Die Sonne schien – alles passte perfekt zusammen. Und so kam es zu einem lockeren und zwanglosen Gespräch.
F.: Zunächst interessiert uns: wann entstanden die Zeugen Jehovas?
A.: Sie entstanden 1931; zu DDR-Zeiten nannten sie sich Bibelforscher.
F.: Warum erlauben die Zeugen keine Bluttransfusion?
A.: Laut der Glaubensansicht der Zeugen Jehovas steht Blut bei Gott für Leben. Um Gott gehorsam zu sein und um ihn als Lebensgeber zu respektieren, lehnen sie eine Blutübertragung ab.
F.: Sind Eigenblutspenden erlaubt?
A.: Werden Eigenblutspenden gelagert, z.B. für eine Operation zu einem späteren Zeitpunkt, heißt die Antwort nein. Während einer OP ausgetretenes Blut dagegen kann verwendet werden.
F.: Gibt es Alternativen zur Bluttransfusion?
A.: Ja. Das Blut des Patienten wird z.B. durch Kochsalzlösungen verdünnt. Außerdem erhält der Patient zusätzlich Sauerstoff, der normalerweise vom Blut transportiert wird. Ein niedriger Hämoglobinwert kann durch die Gabe von Eisen verbessert werden.
F.: Wohin wendet sich ein Kranker, der eine fremdblutfreie Behandlung während einer OP wünscht?
A.: Ein weltweites Krankenhaus-Verbindungskomitee setzt sich für die Patienten ein. In Dresden gehören diesem zehn Ärzte an, die zwischen dem Kranken und Arzt vermitteln. Sie unterstützen die Mediziner bei der Behandlung von Zeugen.
F.: Kirchliche Feiertage und Geburtstage werden nicht gefeiert. Wie kommen Kinder damit zurecht? Fühlen sie sich ausgeschlossen? Sind sie traurig, weil sie keine Geschenke erhalten?
A.: Zeugen lehnen kirchliche Feiertage als heidnisch ab. Sie feiern nur eine einziges religiöses Fest, das Gedächtnismahl zum Tod Christi. Frau Knoll erzählt von Überraschungsgeschenken, die ihre Söhne innerhalb des Jahres erhielten. (Das Ehepaar Knoll hat drei inzwischen erwachsene Kinder). Außerdem veranstalteten sie Gartenfeten oder fröhliche Zusammenkünfte. Um Irritationen in der Schule z.B. bei Weihnachtsfeiern zu vermeiden, informierten sie Lehrer und Erzieher und warben um Verständnis.
F.: Gibt es (Ehe-)paare verschiedener Glaubensrichtungen?
A.: Ja, die gibt es. Ab dem Alter von 14 Jahren sind Kinder dem Gesetz nach religionsmündig. Das heißt, sie können selbst entscheiden, welcher Religion sie angehören wollen. Wenn aber deutlich wird, dass das Kind den Eltern zuliebe einen Glauben annehmen möchte, dann kann die Entscheidung zu einem späteren Zeitpunkt getroffen werden.
F.: Wie ist die Hierarchie der Zeugen aufgebaut?
A.: Geleitet wird eine Gemeinde von den Ältesten. Diakone oder „Dienstamtgehilfen“ helfen den Ältesten bei der Gemeindearbeit. Diakone müssen, wie die Ältesten, erwachsene, getaufte Männer sein.

F.: Wie erfolgt die Unterweisung von Kindern, damit sie zum Glauben der Zeugen finden? (ähnlich der Christenlehre beim christlichen Glauben)
A.: Erwachsene und Kinder nehmen 2 x wöchentlich am Gottesdienst teil. Dieser findet im Königreichssaal statt und beinhaltet das gemeinsame Bibelstudium. Jeweils am Sonntag hält einer der Ältesten einen Vortrag. Die Themen der Vorträge sind weltweit gleich, d.h. weltweit wird der selbe Gedanke besprochen, z.B. ein Artikel aus dem „Wachtturm“. Die Ältesten unterscheiden sich hinsichtlich der Kleidung nicht von den anderen Zeugen. Die Hauptverantwortung für die (religiöse) Erziehung ihrer Kinder tragen die Eltern.
F.: Welche Aufgaben haben Zeugen zu erfüllen?
A.: Die Zeugen Jehovas sind missionarisch tätig. Sie bieten kostenlose Bibelkurse an (siehe oben) und verteilen die Zeitschriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet“. Das Ehepaar Knoll versucht, ohne Voranmeldung mit Menschen in deren Häusern ins Gespräch zu ihrem Glauben zu kommen. Die Zeugen sind bei ihrer Missionstätigkeit an keine Auflagen gebunden; sie sind auch keinem Druck ausgesetzt. Sie erfüllen diese und andere Aufgaben, z.B. Rasenmähen oder Reparaturarbeiten für die Gemeinde ehrenamtlich.
F.: Macht Ihnen die ausgeprägte Missionstätigkeit Freude?
A.: Ja, wir unterhalten uns gern über Themen, die uns am Herzen liegen, genau wie Sie, wenn Sie ein Buch gelesen haben und sich darüber austauschen wollen..
F.: Wie finanzieren sich die Zeugen?
A.: Durch freiwillige Spenden ihrer Mitglieder.
Danke an Frau und Herrn Knoll für ihre sachlichen, dabei ausführenden Antworten. Besonderer Dank aber gilt Frank für die Initiative, Organisation und reichliche Bewirtung. Ehrlich gesagt, hatte ich vorher Bedenken, am Gespräch teilzunehmen. Doch diese waren unbegründet, denn ich erlebte einen angenehmen Austausch unserer Standpunkte.
Dresden, 23. Juni 2025
Petra Metzelthin

Am 08.Mai 2025, einem Donnerstag, fuhren fünf Mitglieder des Literaturzirkels mit dem 360er Bus vom Hauptbahnhof zur Boderitzer Straße in Bannewitz. Schon von weitem grüßte unser erstes Ziel, der Malakowturm des Marienschachts – mit Maschinen- und Kesselhaus, Expedition und Huthaus ein Ensemble von besonderer baugeschichtlicher Bedeutung.
Ein Baumlehrpfad führte uns zur ehemaligen Bahntrasse, die nach dem Bauingenieur Guido Brescius benannt ist. 1907 bis 1952 fuhr hier die Windbergbahn, auch als Sächsische Semmeringbahn bekannt.
Wir passierten in wunderschöner Landschaft die Haltepunkte Boderitz-Cunnersdorf und Kleinnaundorf, bogen links zu einem kleinen Trampelpfad ab und gelangten ganz in die Nähe des Bergmanngrabes, das an das schwere Grubenunglück im Jahre 1869 erinnert. Nach etwa 90 Minuten klang unsere Wanderung bei Kartoffelsalat, Würstchen, Bier und Rotwein in einem mit Flieder umsäumten Garten aus.











Fotos: Sabrina Hampel, Cornelia Schäfer, Petra Metzelthin
]]>Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Fiona Maye, Ende 50, arbeitet als Richterin am High Court in London. Viele Fälle behandelte sie bisher am Familiengericht. Jedes Urteil hinterlässt Spuren: hat sie richtig entschieden, wurde sie der Sache gerecht, wurde sie ihrer Verantwortung gerecht? Ihr Tag ist mit Recherchen und Sitzungen in Gerichtssälen ausgefüllt und oftmals kann sie zu Hause nicht abschalten, schreibt und überprüft Urteilsberichte und durchdenkt Anklagen.

Reiner Zufall, wenn man mit korrekt gebildeten und an den richtigen Stellen platzierten Körperteilen geboren wurde und mit liebevollen und nicht grausamen Eltern, oder wenn man, durch geographisches oder soziales Glück, Krieg und Armut entging.
Fiona lebt seit etwa dreißig Jahren mit ihrem Mann Jack glücklich zusammen. Beide gehen anspruchsvollen Hobbys nach; Fiona spielt Klavier, Jack hat ein Buch geschrieben. Sie hören gern Jazz und klassische Musik und sie können sich gut miteinander unterhalten. Deshalb trifft es Fiona hart, als Jack ihr einen Seitensprung mit einer jungen Frau ankündigt. Er sagt, das Sexleben kommt in ihrer Beziehung zu kurz.
Während ihr Privates durcheinander geraten ist, erreicht Fiona ein neuer dringender Fall: darf Adam Henry, ein 17jähriger Schüler und Zeuge Jehovas eine Bluttransfusion erhalten, die sein Leben rettet? Seine Eltern wollen sie wegen ihres Glaubens verweigern.
Fiona Maye verhandelt den Eilantrag der Klinik, die den Tod des Schülers nicht zulassen will. Hier geht es um Leben und Tod. Zu Wort kommen der Anwalt der Klinik, Mark Berner, der Arzt Tovey, der Anwalt der Eltern, Leslie Grieve, der Vater und die Sozialarbeiterin Marina Greene, die plädiert:
Adam sollte nicht aus religiösen Gründen sterben.
Alle Argumente wägt Fiona ab, doch ehe sie zu einem abschließenden Urteil kommt, macht sie sich selbst ein Bild vom Patienten – sie besucht ihn im Krankenhaus. Sie spricht mit ihm, hört seine Gedichte und seine Melodie auf der Geige und sie singt. Fiona erkennt die große unausgesprochene Angst in Adams Augen.

Logisch baut Fiona ihre Urteilsbegründung im Gerichtssaal auf: sie erlaubt die Transfusion.
Gleichwohl hat das Kindeswohl für meine Entscheidung oberste Priorität.
Adam wird gesund, er geht zur Schule, hat Streit mit seinen Eltern und zweifelt an seinem Glauben. Er sucht die Hilfe von Fiona, die ihm zwar nicht aus dem Weg geht, aber ihm nicht das geben kann, was er verlangt: Zuwendung, Wohnen bei den Mayes, Gespräche. Um die erotischen Spannungen nicht zu vertiefen, antwortet sie nicht auf seine Briefe. Bei einer von Adam herbeigeführten Begegnung kommt es zum flüchtigen Kuss. Fiona fühlt sich schuldig, gleichzeitig nähern sich die beiden Eheleute wieder an.

Auf einen Brief, der ein von Adam verfasstes Gedicht enthält, antwortet Fiona wieder nicht. Sie beruhigt ihr Gewissen, denn sie weiß, die Erinnerung an sie würde verblassen.
Fiona übt, wie jedes Jahr, für eine Weihnachtsaufführung des High Court. Am Tag des Konzerts gelangt eine Information an sie, die sie des Lärmes wegen nicht richtig versteht. Doch eine schreckliche Ahnung überkommt sie. Ihr Spiel wird von dieser Ahnung beeinflusst; gemeinsam mit ihrem Partner Mark taucht sie in eine Stimmung stiller Resignation ein. Die Melodien werden von ihrem traumatischen Zustand getragen. Fiona flieht nach Hause und erfragt sich dort die bittere Wahrheit: Adam ist tot. Der 18jährige widersetzte sich der Bluttransfusion, als die Leukämie erneut ausbrach.

Ian McEwan – Kurzbiografie
Ian McEwan wurde am 21.Juni 1948 in Aldershot (Vereinigtes Königreich) geboren.
Er lebte zeitweise in Singapur und Libyen, da sein Vater als schottischer Major in diese Länder versetzt wurde. Er studierte englische und französische Philologie, absolvierte einen Kurs “Kreatives Schreiben” und lebt seit 1975 als freier Schriftsteller. Für seine Erzählungen und Romane erhielt McEvan bedeutende Preise und viele seiner Werke wurden verfilmt.
Ian McEwan – Was ist ein gelungenes Leben?
In der SLUB vorhanden (Auswahl):
]]>Vicki Baums Roman „Menschen im Hotel“ (1929) spielt in einem luxuriösen Hotel in Berlin in den 1920er Jahren und schildert das Schicksal mehrerer Gäste und Angestellter, deren Lebenswege sich für kurze Zeit kreuzen.

Im Mittelpunkt steht die alternde russische Primaballerina Grusinskaja, die mit ihrer schwindenden Popularität und Einsamkeit kämpft. Sie verliebt sich in den mittellosen, aber charmanten Baron von Gaigern, einem Hochstapler und Dieb, der sie ursprünglich bestehlen will. Parallel dazu kämpft der Geschäftsmann Preysing um das Überleben seiner Firma. Um einen drohenden Bankrott abzuwenden, schreckt er auch nicht vor Betrug zurück. Im Hotel begegnet er der jungen und ehrgeizigen Sekretärin Flämmchen, die von einem besseren Leben träumt. Nachdem diese seine wahre, brutale Natur erkennt, wendet sie sich mit Entsetzen von ihm ab. Später wird Preysing in einem Moment der Verzweiflung zum Mörder: Als er Baron van Gaigern auf frischer Tat beim Diebstahl ertappt, erschlägt er ihn. Zeuge dieser Dramen ist Dr. Otternschlag, ein durch den Ersten Weltkrieg gezeichneter Arzt, der das Geschehen mit melancholischer Distanz beobachtet.
„Menschen im Hotel“ ist nicht nur eine spannende, fein verwobene Erzählung über Liebe, Betrug und Vergänglichkeit, sondern auch ein Spiegel der Umbrüche der Zeit. Der Roman reflektiert die Dekadenz, die wirtschaftlichen Krisen und die sozialen Spannungen der späten 1920er Jahre und wurde auch durch eine erfolgreiche Hollywood-Adaption („Grand Hotel“, 1932) weltberühmt.
Vicki Baum: Biografie

Vicki Baum (eigentlich Hedwig Baum) war eine österreichisch-deutsche Schriftstellerin, geboren 1888 in Wien und gestorben 1960 in Hollywood, Kalifornien.
Sie wuchs in einer jüdischen Familie auf und erhielt eine musikalische Ausbildung als Harfenistin. Sie studierte an der Wiener Musikakademie und arbeitete zeitweise als Musikerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Als Jüdin und kritische Intellektuelle verließ Baum 1932 Deutschland und emigriert in die USA, wo sie 1938 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. In Hollywood arbeitete sie als Drehbuchautorin und veröffentlichte zahlreiche weitere Romane.
Bereits ihr erster Roman „Der Eingang zur Bühne“ (1920) wurde ein großer Verkaufserfolg. Von 1926 bis 1931 arbeitete sie für den Ullstein-Verlag als Redakteurin und war mit ihren Romanen eine der meistgelesenen Autorinnen der Weimarer Republik. Ihr größter auch internationaler Bucherfolg, „Menschen im Hotel“, erschien 1929.
Neben ihren Romanen verfasste Vicki Baum auch Novellen und Dramen sowie zahlreiche feuilletonistische Textefür unterschiedliche Zeitungen und Zeitschriften.
In der SLUB vorhanden (Auswahl):
- Die Karriere der Doris Hart, 1954
- Hotel Shanghai, 1960
- Die grosse Pause, 1952
- Der grosse Ausverkauf, 1937
Treffen der Mitglieder des Literaturzirkels am 03. April 2025im Gruppenarbeitsraum des TextLab




Eine kurze Inhaltsangabe? Kein Problem:
“Irrer Kapitän sucht einen weißen Wal – Kampf auf Leben und Tod – Wal lebt / Kapitän tot.“
Und dafür 389 Seiten in der Bertelsmann Lesering Ausgabe von 1957 und der Übersetzung von Johannes Ferdinand Wetzel ?
Ja, die 389 Seiten sind alle des Lesens wert. Da Inhalt des Buches, die Seefahrt eines Walfangschiffes in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wird von einem Ich-Erzähler namens Ismael wiedergegeben.
Ismael selbst tritt in Buch fast nur in den ersten sowie den letzten Kapiteln in Erscheinung. Er, ein untergeordneter Matrose, beschreibt jedoch anschaulich und nachvollziehbar Schiffseigner, Kapitän, Offiziere, Harpuniere, Handwerker und Matrosen.
Doch interessant wird das Buch vor allem durch die Beschreibung der für uns Leser Abenteuer, für die Protagonisten konkreten Arbeit: in der Takelage, bei Sturm, dem Walfang von kleinen Booten aus, die Trangewinnung aus den längsseits festgebundenen Walen. Der rote Faden des Buches wird vom Kapitän Ahab gezogen. Er hat vor unbestimmter Zeit bei einem Kampf mit dem „Moby Dick“ genannten Wal ein Bein verloren und sinnt seither auf Rache.

Nach einer reichlich halben Globusumrundung trift der Mannschaft auf Moby Dick. Der Versuch, den Wal zu töten, ist eher der Kampf zweier gleichstarker Kreaturen, welcher sich über drei Tage hinzieht. Überlebende sind der Wal Moby Dick und der Erzähler Ismael.
Und sonst? Die Charaktere von Charles Dickens kamen mir in den Sinn, wenn Melville u.a. die zwei Schiffseigner Flash sowie Ahab skizziert.
Auch wenn ich bisher noch keinen Moby Dick – Film gesehen habe, so waren doch etliche Seiten drehbuchreif geschrieben.
Und zur literarischen Einordnung: Moby Dick ist für mich eindeutig ein Jugendbuch. Wobei ich mir unsicher bin, ob die heutigen Jugendlichen diese Art von Büchern lesen.
Richter, F. ; Mohorn im Februar 2025
Herman Melville: Kurzbiographie

- Geboren am 01.August 1819 in New York.
- Wie viele Eltern dieser Generation kamen auch seine direkt aus Europa, bzw. waren Kinder von Eurpäern.
- Auf für damalige Zeit nicht ungewöhnlich mußte der junge Herman auf Grund finanzieller Engpässe seine und der Familie Unterhalt erwirtschaften.
- Im Alter von ca. 19 Jahren fuhr er als Kajütjunge auf einem Segelschiff zur See.
- Knapp sieben Jahre lang, mit Unterbrechungen, für er auf verschiedenen Schiffen.
- Das Gelebte war Grundlage für die meisten seiner literarischen Werke.
- Und auch das eint Melville mit anderen heut gewürdigten Schriftstellern: zu Lebzeiten nur geringer Erfolg, auch im finanziellen.
- Er starb am 28. September 1891.
Werkauswahl / in der SLUB vorhanden
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Anne Wolf, Sabrina Hampel, Frank Richter, Birgit Heinrich, Matthias Herklotz, Petra Metzelthin, Berit Weis, Cornelia Schäfer
Am 06. Februar 2020 kamen erstmals Interessierte zu einem literarischen Treffen in der Zentralbibliothek der SLUB zusammen. Wir starteten mit dem Buch von Johanna Lankau „Dresdner Spaziergänge“. Seitdem diskutieren wir einmal im Monat über Romane, die abwechselnd von Teilnehmern vorgeschlagen werden, so z.B. über „Die Blendung“ von Canetti oder über„ Der falsche Nero“ von Feuchtwanger. Als wir uns während der Corona-Zeit nicht treffen durften, kommentierten wir virtuell Themen in diesem Blog.
Nicht immer sind wir einer Meinung. Zunächst vergibt jeder Teilnehmer eine Ziffer über das gelesene Buch, wobei 5 die beste Bewertung darstellt und 1: hat mir nicht gefallen. Aus den Begründungen, bzw. Argumenten ergeben sich oft anregende Streitgespräche. Dabei bleibt der Austausch offen und wertschätzend.
Es hat sich eingespielt, dass derjenige, der ein Buch vorschlägt, einen Beitrag für den Blog schreibt: eine Inhaltsangabe oder Rezension und eine Kurzbiografie des Autoren.
Neben Gesprächen über Bücher unternehmen wir Exkursionen, Besichtigungen und Spaziergänge mit Bezug zur Literatur.
Folgende Höhepunkte und Leseerlebnisse der vergangenen Jahre fielen den Teilnehmern während unserer Jubiläumsfeier spontan ein:
- Ein literarischer Spaziergang über die Höhen im Dresdner Westen zum Grab von Eva und Viktor Klemperer auf dem Dölzschener Friedhof.
- Wir lasen Bücher über Hellerau von Hans-Jürgen Sarfert und Durs Grünbein und besichtigten die Gartenstadt unter Führung von Frau Nitzschke.
- In der Zweigbibliothek Tharandt lasen wir eigene Geschichten zu Fremdworten, ohne deren Bedeutung zu kennen. Ein literarischer Spaziergang am Rande des Tharandter Waldes folgte etwa Jahr später.
- Gleich zwei Mal streiften wir unter fachkundiger Führung durch den Großen Garten
- Besondere Weihnachtsfeiern erlebten wir im originell eingerichteten Haus einer Teilnehmerin.
- Wir lasen Joseph Roth, Kurt Drawert, Dörte Hansen, Sàndor Màrai, Reginald Arkell, Ewald Arenz, Charlotte Gneuß, Christoph Hein und viele andere.
- Oft wurden Inhalte von Romanen durch Dinge veranschaulicht, z.B. durch Kartoffelschleuder, Schraubzwinge, Helm oder Plakat.
- Einen Buchbinderkurs zur Japanischen Hefttechnik besuchten wir Mitte März 2022.
- Vieles ließe sich noch aufführen, so unsere (Wort)-spiele (z.B. mit Märchenfiguren) oder die Geschichten, die zu Hause geschrieben wurden (siehe unten stehende Hefte). Oder die Veranstaltungen, die wir gemeinsam besuchten.



Ein Jubiläum ist immer auch ein Anlass, „Danke“ zu sagen. Wir sagen „Herzlichen Dank“ , dass uns, wann immer wir es wünschen, ein Gruppenarbeitsraum der SLUB Dresden zur Verfügung steht; auch nutzen wir den SLUB TextLab-Blog, um Höhepunkte, Erlebnisse und Gedanken festzuhalten.
]]>| Stilmittel zur sprachlichen Gestaltung | ||
| Begriff | Bedeutung | Beispiel |
| Akkummulation | Aufzählung mehrerer Unterbegriffe zu einem Oberbegriff | Hose, Pullover, Hemd = Kleidung |
| Alliteration | Betonte Silben – Klangfiguren – aufeinanderfolgender Wörter anlauten gleich, d.h. wichtige Wörter einer Verszeile beginnen mit dem gleichen Konsonanten oder mit dem gleichen Vokal. | frank und frei |
| Anapher | Ein Wort wird am Anfang bei aufeinanderfolgenden Sätzen, Versen oder Strophen wiederholt. | Keine Staus, keine Termine |
| Euphemismus | Euphemismus ist ein Stilmittel, bei dem bestimmte Wörter durch einen beschönigenden Ausdruck ersetzt werden. | kostenintensiv statt teuer |
| Hyperbel | Mit einer Aussage, in der eine Hyperbel verwendet wird, schießt man über das Ziel hinaus und übertreibt. | „Das habe ich dir doch schon tausendmal gesagt!“ |
| Ironie | Hier meint man genau das Gegenteil des Ausgedrückten. | „Du bist mir ja ein schöner Freund!“ |
| Litodes | Die Litotes bringt das Gegenteil zum Ausdruck oder schwächt das Gemeinte ab, um es im Eigentlichen zu verstärken. | „Das ist keine Kleinigkeit!“ |
| Metapher | Metapher sind Formen des nicht-wörtlichen Sprachgebrauchs. Sie erzeugen im Kopf des Hörers oder Lesers Bilder | mit rosaroter Brille sehen |
| Metonymie | Die Metonymie ist eine weitere Form des nicht-wörtlichen Sprachgebrauchs. Sie bedeutet „Namensvertauschung“. | „Ich lese am liebsten Thomas Mann.“ |
| Oxymoron | Das Oxymoron wird aus zwei Begriffen gebildet, die sich widersprechen oder sogar gegenseitig ausschließen. | Hassliebe |
| Pleonasmus | Zwei Wörter – oft zusammengesetzte Wörter – beschreiben das Gleiche. | Stillschweigend |
| Wortspiele | ||
| Begriff | Bedeutung | Beispiel |
| Anagramm | Beim Anagramm werden die Buchstaben eines Wortes, eines Satzes oder auch einer Wortgruppe so umgestellt, dass ein neuer Sinn entsteht. Dabei dürfen keine Buchstaben weggelassen oder hinzugefügt werden. | Mehl – Helm |
| Ananym | Das Ananym ist eine spezielle Form des Pseudonyms und eine Sonderform des Anagramms. Die Buchstaben eines Namens werden neu angeordnet und bilden dadurch einen neuen Namen. | Paul Ancel – Paul Celan |
| Antonyme | Beim Antonym bildet das Wortpaar einen Gegensatz | Licht und Schatten |
| Homonyme | Ein Wort hat mehrere Bedeutungen | Flügel |
| Palindrom | Beim Palindrom wird eine sinnvolle Folge von Buchstaben, Wörtern oder Versen sowohl vorwärts, als auch rückwärts gelesen – der Sinn bleibt | Ein Esel lese nie |
| Pangramm | Ein Pangramm ist ein Satz, der alle Buchstaben des Alphabets enthält. | Franz jagt im komplett verwahrlosten Taxi quer durch Bayern |
| Synonyme | Haben gleichen oder sehr ähnlichen Bedeutungsumfang | Übellaunig, mürrisch, unwirsch |
| Akrostichon | Akrostichon bedeutet, dass die Anfangsbuchstaben von Wörtern oder Zeilen in einem Text eine versteckte Botschaft ergeben. Somit ist es eine besondere Form des Gedichts. | Heft Eselsohren Füllhalter Tinte |
| Telestichon | Die letzten Buchstaben bilden ein Wort. | Wörterbuch Spalte Begriff Stift |
| Mesostichon | Eine andere Buchstabenreihe im Text bildet das Wort | AHnungsvoll im Theater vErdrossen rausspaziert: oFfensichtlich Thema verfehlt sTattdessen Klamauk |
„Corpus Delicti: Ein Prozess“ ist ein dystopischer Roman der deutschen Schriftstellerin Juli Zeh. Als Theaterstück im Auftrag der RuhrTriennale geschrieben und 2007 in Essen uraufgeführt, erschien der Roman selbst erst 2009 im Verlag Schöffling & Co.
Der Titel „Corpus Delicti“ ist ein aus dem Lateinischen stammender Begriff und meint soviel wie den „Körper des Verbrechens“. Er lässt sich bis in das 13. Jahrhundert der italienischen Inquisitionsprozesse zurückverfolgen. In der heutigen Rechtsprechung ist damit umgangssprachlich meist das „Überführungsstück“, das wesentliche Beweisstück für die Straftat, das Tatmittel gemeint. Durch die Titelwahl „Corpus Delicti. Ein Prozess“ wird der Rezipient sofort in den Inhalt des Buches hineingezogen. Es geht um einen Gerichtsprozess, der Überführung des Täters anhand eines Corpus Delicti, seiner Bestrafung.
Die literarische Dystopie spielt in einem Staatssystem/Rechtssystem, welches im Buch METHODE genannt wird. Für dessen Abbildung greift Juli Zeh Entwicklungen unserer heutigen Zeit auf, führt diese weiter und nimmt sie als Grundlage für ihre Gesundheitsdiktatur um das Jahr 2050.Der Roman warnt vor kritischen Entwicklungen der heutigen Gesellschaften und appelliert an die Mündigkeit und Eigenverantwortung eines jeden einzelnen Bürgers.

Die geschilderte Diktatur erhebt den Anspruch der Unfehlbarkeit, sie fußt auf der Bereitschaft des Menschen, das biologische Leben zu sichern, die Menschen haben einen Chip im Arm und werden darüber digital kontrolliert. Ungesunde Lebensführung, Verstöße werden bestraft. Der Staat überwacht und steuert vielfältig. Der Methodenschutz (die Geheimpolizei) geht gegen Methodenfeinde vor, Hausgemeinschaften, Arbeitskollegen sind die ergänzende Überwachung des einzelnen. Man ist Teil eines Netzwerkes, hat hier nicht nur zu funktionieren, sondern auch alles dafür zu tun, ständig sich selbst zum Wohle aller zu verbessern. Dieses Verhalten wird belohnt, sei es durch einen Karriereaufstieg, größere Freiheiten, Auszeichnungen, Medienpräsenz. Auch eine Liebesbeziehung sollten nur noch zwischen Personen mit kompatiblen Immungruppen möglich sein, so werden die zukünftigen Partner für einen ausgewählt, Entscheidungen, Verantwortungen abgenommen. Das Gegenbeispiel für Freiheit und Selbstbestimmung ist im Roman die methodenfeindliche Terrorgruppe R.A.K. (Recht auf Krankheit).
Im Mittelpunkt des Romans steht der Prozess um die Naturwissenschaftlerin Mia Holl, die sich immer mehr zur Staatsfeindin und Freiheitskämpferin entwickelt. Sie trauert um ihren Bruder Moritz. Dieser nahm sich vor ca. einem Monat im Gefängnis das Leben. Moritz Holl war des Mordes an Sybille angeklagt. Er wollte sich mit dieser freiheitsliebenden, vom System für ihn als unkompatibel eingestuften, Frau treffen, die er bei seinem Eintreffen am vereinbarten Treffpunkt vergewaltigt und ermordet auffindet. Mittels eines DNA-Tests wird Moritz für schuldig befunden, verurteilt, obwohl er bis zuletzt eindringlich seine Unschuld beteuert. Bei einem Besuch Mias im Gefängnis schmuggelt diese ihm auf Wunsch eine Angelschnur zu, mit der er sich kurz darauf erhängt.
Heinrich Kramer, ein gutaussehendes Sprachrohr der Methode, und der Rechtsanwalt Lutz Rosentreter suchen im Anschluss den Kontakt zu Mia, um weiter nachzuforschen.
Mia Holl verbringt seit dem Tod ihres Bruders ihre Tage recht verwahrlost und zurückgezogen in ihrer Wohnung. Die METHODE wird auf sie aufmerksam, da sie ungesund lebt, die obligatorischen Schlaf- und Ernährungsberichte, ebenso wie das tägliche Sportprogramm nicht mehr erfüllt. Zusammen mit der „idealen Geliebten“, eine von Moritz erfundene und an ihn erinnernde Person (mit Mephisto aus Faust I durchaus Parallelen aufweisend) verbringt sie analysierend ihre Zeit.
Nach einer Summierung ihrer Verfehlungen wird Mia angeklagt. Rosentreter, der Mia als Rechtsanwalt vertritt, sucht bewusst eine Verschärfung der Situation. Anfangs ist dies ein Nachteil für seine Klientin. Eher verschusselt und schwach wirkend, schafft es der Anwalt durch akribische Recherche abseits der bisherigen juristischen Wege in der Hauptverhandlung die falsche Verurteilung und damit den Fall Moritz Holl aufzuklären. Dieser hatte durch eine viele Jahre zurückliegende Knochenmarkspende den genetischen Fingerabdruck des Spenders erhalten und seine eigene verloren. Der Mörder von Sybille ist der Lebensretter und zugleich indirekt der Mörder Moritz‘. Mia muss aus der Haft entlassen werden.
Infolge dieses Justizskandals, der die Fehlbarkeit der METHODE aufzeigt, äußern sich viele Medienvertreter mutig zu möglichen Reformen. Mias innerer Konflikt zwischen dem Anerkennen des positiven DNA-Tests als Beweis für die Schuld und dem Glauben an die Unschuld ihres Bruders Moritz löst sich. Sie bestellt Kramer zu sich und diktiert ihm ein Pamphlet, in dem sie der Methode ihr Vertrauen entzieht, sich für die Seite, die Ansichten ihres verstorbenen Bruders und gegen die Methode entscheidet.

Mia wird die ganze Zeit ohne ihr Wissen eng überwacht und kurz nach ihrem Sieg im als unhygienisch geltenden verbotenen Wald an ihrem Lieblingstreffpunkt mit ihrem Bruder als Feindin des Staates festgenommen. Fingierte Beweisstücke, erpresste oder falsche Zeugenaussage erbringen für die Staatsschützer und Heinrich Kramer diescheinbaren Nachweise, dass Mia als Anführerin einer terroristischen Vereinigung einen verheerenden Giftanschlag vorbereitet hätte. Die Medien werden bewusst als Vierte und hier für die METHODE manipulierende Gewalt im Buch dargestellt, die Mia immer weiter separieren. Der Aufforderung Kramers, ein bereits vorbereitetes Geständnis zu unterschreiben, kommt Mia auch unter Folter nicht nach. Ihr Verhalten gegenüber Kramer ist sehr ambivalent, erinnert teilweise an das Stockholm-Syndrom, sie vergibt ihm alles, ist scheinbar verliebt in ihn und rechtfertigt seine Taten. (Zugleich gibt es Parallelen zu Faust I von Goethe. Hier trägt Faust den Vornamen Heinrich, er hat zur damaligen Zeit als Mann die Macht und mehr Freiheiten im System, verführt Gretchen, die am Ende aber erkennt, wie blind sie war.) Im folgenden Gerichtsprozess folgt die Verurteilung zum Einfrieren auf unbestimmte Zeit. Sie wird im letzten Moment begnadigt und ein Resozialisierungsprogramm für sie vorbereitet, um sie nicht zur Märtyrerin zu machen.
Der Roman besteht aus 50 Kapitel von unterschiedlicher Länge (2-16 Seiten). Jedes Kapitel trägt eine Überschrift mit signifikanten Wörtern und Halbsätzen.
Interessante und intelligente Gestaltungsmerkmale Juli Zehs im Roman:
Das Vorwort ist ein Zitat aus Heinrich Kramers ideologischer Schrift zur Gesundheit, Funktion eines Mottos, das auf die Gedankenwelt der METHODE einstimmt.
Das Urteil im Anschluss an das Vorwort ist die scheinbare Vorwegnahme des Romanendes als offizielles Dokument. Es ist der Erzählrahmen.
Ein auktorialer Erzähler („wir“) nimmt den Rezipienten an die Hand und macht seinen Wissensvorsprung deutlich. Das personale Erzählverhalten („Wie die Frage lautet“) am Ende zeigt Mias Widerstand, ihr Bekenntnis gegen die METHODE.
Die Wahl der Zeitform Präsens in der Mia-Holl-Handlung zeigt die Unmittelbarkeit, der Rezipient ist live dabei. Wählt die Autorin die Zeitform Präteritum, verstärkt sie den Erinnerungscharakter.
Rückblenden und Verschachtelungen lassen die Protagonistin Mia und ihre Entwicklung authentischer werden. Sie entwickelt sich von der Konformistin zur Systemgegnerin und verliert dabei scheinbar Gleichgesinnte ans System, steht allein da. Durch das offene Ende ist der Rezipient am Ende der einzige, der in Aktion treten, etwas bewegen kann.
Verschiedene Lesarten (juristisch, politisch, soziologisch, psychologisch) lassen viel Spielraum, um sich während und nach dem Lesen weiter mit dem Inhalt des Buches, Parallelen zum eigenen Leben, zu jetzigen Staaten etc. auseinanderzusetzen.
Interessante Zitate aus dem Buch:
„Das Vorwort“, Seite 7:
„Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens – und nicht nur die bloße Abwesenheit von Krankheit.“ (Heinrich Kramer)
„Fell und Hörner, erster Teil“, Seite 62:
„Ernst ist der Vorname des Vergnügens.“ (Moritz Holl)
„In meinen Träumen sehe ich eine Stadt zum Leben, wo die Häuser Frisuren tragen aus rostigen Antennen. Wo die Eulen in geborstenen Dachstühlen wohnen. Wo laute Musik, Rauchskulpturen und das satte Klicken von Billardkugeln aus den oberen Stockwerken maroder Industrieanlagen dringen. Wo jede Laterne aussieht, als beleuchte sie einen Gefängnishof. Wo man Fahrräder zum Anstellen ins Gebüsch drückt und Wein aus schmutzigen Gläsern trinkt …“ (Moritz Holl)
„Das Ende vom Fisch“, Seiten 92f:
„Dem wahren Menschen genügt das Dasein nicht, wenn es ein bloßes Hier-Sein meint. Der Mensch muss sein Dasein erfahren. Im Schmerz. Im Rausch. Im Scheitern. Im Höhenflug. Im Gefühl der vollständigen Machtfülle über die eigene Existenz. Über das eigene Leben und den eigenen Tod.“ (Moritz Holl)
„Nur wenn ich mich auch für den Tod entscheiden kann, besitzt die Entscheidung zugunsten des Lebens einen Wert! {…} Um frei zu sein, darf man den Tod nicht als Gegenteil des Lebens begreifen.“ (Moritz Holl)
„Übrig blieben klare Luft, der Geruch warmer Erde und der Fluss, auf dessen Oberfläche unzählige Lichtmünzen schaukelten.“
„Der Hammer“, Seite 99:
„Depressive haben zersetzende Wirkung. Sie ziehen die Hilfsbereitschaft ihrer Umgebung an, während sie das Selbstmitleid zur Privatreligion erheben und nichts weniger wünschen, als ihrer traurigen Lage zu entkommen. Sie sind Missionare des Unglücks. Ansteckend.“
„Ambivalenz“, Seiten 126f:
„… Höflichkeit, die letztlich immer nur dazu dient, eigene Gedanken zu verbergen, …“
„Kramer tut alles ganz: gehen, stehen, reden, sich kleiden – ganz. Er denkt und spricht mit einer Rücksichtslosigkeit, die darauf verzichtet, der ewigen Unentschiedenheit des Menschen auf dialektische Art zur Legitimation zu verhelfen.“ (Mia Holl über Heinrich Kramer)
„Mia kann alles begründen, genau wie das jeweilige Gegenteil …“
„Die Zaunreiterin“, Seiten 143ff
„Manchmal kommt es vor, dass jemand auf gewaltige Weise recht hat und dass dieses Rechthaben jede Antwort überflüssig macht. Es unterbricht den ewigen Kreislauf des Einerseits-Andererseits. Eine geradezu himmlische Ruhe tritt ein.“
Hexe = Hagazussa, ein Wesen, das auf Zäunen lebt, der Besen ist die gegabelte Zaunstange -> „Zäune und Hecken sind Grenzen, Mia. Die Zaunreiterin befindet sich auf der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis. Zwischen Diesseits und Jenseits, leben und Tod, Körper und Geist. Zwischen Ja und Nein, Glaube und Atheismus. Sie weiß nicht, zu welcher Seite sie gehört. Ihr Reich ist das Dazwischen… {Wer keine Seite wählt, ist ein Außenseiter. Und Außenseiter leben gefährlich. Von Zeit zu Zeit braucht die Macht ein Exempel, um ihre Stärke unter Beweis zu stellen. Besonders, wenn im Inneren der Glaube wackelt. Außenseiter eignen sich, weil sie nicht wissen, was sie wollen. Sie sind Fallobst.“ (ideale Geliebte zu Mia Holl)
Mia Holl: Außenseiterin, ist der Meinung, dass der Umgang mit Menschen Zeitverschwendung ist, Ausnahmen: Tote und Todfeinde, sie hofft, wo sie auch ist, im Kaufhaus, im Treppenhaus …, niemandem zu begegnen, von niemanden bemerkt zu werden, „Sie braucht Zeit und Raum für sich selbst und ihre Gedanken.“
„Fell und Hörner, zweiter Teil“, Seite 148:
„Wir kommen aus dem Dunkel und gehen ins Dunkel. Dazwischen liegen Erlebnisse. Aber Anfang und Ende, Geburt und Tod werden nicht erlebt.“ (Moritz Holl zu Mia)
„Man lebt also für sich selbst und stirbt für die anderen.“ (Mia zu Moritz)
„Man darf nur beim Für-sich-Leben nicht vergessen, recht viele Haken zu schlagen, um den anderen aus dem Weg zu gehen. Denn weißt du, was jede Begegnung mit anderen bedeutet? {…} Den Zwang zur Entscheidung. Entweder, du begehst einen Verrat an dir selbst, oder du sagst, was du denkst – und bringst dich in Gefahr.“ (Moritz Holl zu Mia)
„Geruchlos und klar“, Seite 204:
„Ist es nicht interessant, dass der Mensch stets dazu neigt, Schwäche mit Unschuld gleichzusetzen? Darin zeigen sich die hartnäckigen Überreste christlichen Denkens. Wenn David gegen Goliath antritt, drückt der Pöbel Davis die Daumen. Als ob Unterlegenheit ein moralischer Vorteil wäre.“ (Heinrich Kramer zu Mia Holl)
Eigenes Resümee:
Ich finde die Dystopie sehr gut. Sie ist zeitlos und wenn man bedenkt, dass das Buch 2007 als Theaterstück schon aufgeführt wurde, vor der Coronazeit, vor der zunehmenden Einflussnahme der WHO, der (Pharma)-Industrie, der Politiker (Funktionen in diversen Aufsichtsräten, ihrer Partei verpflichtet), der Globalisierung, ist es immer wieder erschreckend, wie sich alles entwickelte und weiter entwickeln wird. Wenn man nach China und der Digitalisierung schaut, dass nur Systemtreue Kredite, entsprechende Beförderungen erhalten, die Öffentlichen Verkehrsmittel nutzen dürfen, dann kann man nach dem Lesen des Romans dystopisch weiter im Gespräch bleiben und überlegen, wie man solche Entwicklungen aufhalten, verlangsamen oder sogar umkehren kann.
Ein Buch als Pflichtlektüre in Sachsen am Gymnasium mit sehr viel Inhalt. Ist das Ausmaß der Problemstellungen, der angesprochenen Konflikte, Parallelen für Jugendliche fassbar, erkennbar, lösbar?
Autorenprofil Juli Zeh

„Wie wollen wir denn nun sein: stark, schön und erfolgreich – oder edel, hilfreich und gut?“
Julia Barbara Finck, bekannter unter ihrem Künstlernamen Juli Zeh, wurde 1974 in Bonn geboren. Seit 2007 lebt sie in Barnewitz, einem Dorf in Brandenburg.
Nach ihrem Abitur in Bonn studierte sie in renommierten Städten Rechtswissenschaft mit dem Fokus auf Völkerrecht und in Leipzig Literatur. Die Mutter von zwei Kindern ist im Hauptberuf Schriftstellerin, arbeitet aber auch als Juristin und vereidigte ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht Brandenburg. Neben ihrer Arbeit als Juristin wurde und wird sie nach eigener Aussage u.a. durch ihren Vater, einem politisch engagierten Juristen, ihre Mutter, einer Übersetzerin, und ihrem Ehemann, einem Fotografen und Autor, in ihrer Schreibarbeit inspiriert. Mit ihrem Ehemann veröffentlichte sie auch gemeinsame Bücher. Juli Zeh ist Magister der Rechte und erhielt das Schriftstellerdiplom.
Sie verbindet beim Schreiben gern Literatur mit Politik, sah sich selbst lange als Arbeitslose mit Schreibauftrag, denn eigentlich wollte sie lieber in die politische Berufsschiene gelangen, denn Schreiben als Beruf zu sehen, fiel ihr schwer. Als Autorin beschäftigt sie sich mit Politik, der Freiheit, gesellschaftlichen und menschlichen Widersprüchen, moralischen Grenzfragen, der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung, einer Wohlstandsgesellschaft und der daraus resultierenden Gefahren für die Gesundheit und ihren eigenen psychischen Problemen, da sie ein eigener Burnout mit Angstzuständen 2015 zum Umdenken zwang. Seitdem schreibt sie nur noch 30 Minuten am Tag, entspannt, raucht, trinkt und verweigert sich dem Druck, ständig Bestseller schreiben zu müssen.
Mit ihrem Debütroman „Adler und Engel“ 2001 erlangte sie Welterfolg. Neben Romanen schreibt Juli Zeh auch Kurzgeschichten, Sach- und Kinderbücher, z.B. Pferdebücher, sowie rechtswissenschaftliche Monografien. Ihre Werke wurden bisher in bis zu 35 Sprachen übersetzt. In ihrem journalistischen Nebenberuf verfasst sie Essays und Kolumnen für „Die Zeit“, die „FAZ“ und den „Spiegel“. Ihr gesellschaftlich- politisches Engagement zeigt sich u.a. darin, dass Juli Zeh verschiedene deutsche Einrichtungen als Mitglied aktiv unterstützt, wie z.B. die Stiftung „4 Pfoten“, die Freie Akademie der Künste und das PEN-Zentrum.
Ihr Buch „Corpus Delicti. Ein Prozess“, ihr erstes politisches Buch, 2009 wurde inzwischen der Weltliteratur zugeordnet und ist an Schulen verschiedener Bundesländer lehrplanrelevant. Einige Werke wurden inzwischen vertont, verfilmt, an Theatern inszeniert und damit einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Für ihre Werke wurde sie inzwischen vielfach ausgezeichnet, z.B. mit dem Deutschen Bücherpreis, dem Gerty-Spies-Literaturpreis, dem Thomas-Mann- Preis und 2018 mit dem Bundesverdienstkreuz. Politisch nicht nur in der SPD engagiert, bemüht sie sich Wogen zu glätten, politische Entscheidungen zu hinterfragen oder sogar Wind zu säen.
„Nicht einmal die Wahrheit höchstpersönlich ist so überzeugend wie ein gut zementiertes Vorurteil.“
]]>Die folgenden Ausschnitte sind Romanen entnommen, die wir 2024 gelesen und über die wir gesprochen haben.
Wir sollten anlässlich unserer Weihnachtsfeier die u.g. Textstellen wiedererkennen und dem entsprechenden Buch zuordnen.
1
Es war ein Gefühl, ein unangenehmes, das ihr wohl am Morgen schon gekommen war, bei einem Wort von Peter in Verbindung mit eigenen trüben Gedanken, oben im Schlafzimmer, als sie ihren Hut abnahm; und ein Wort von Richard kam dazu. Was hatte er doch gesagt? Da standen seine Rosen. Ihre Gesellschaften! Das war es. Beide hatten höchst unbillige Kritik an ihr geübt und sie ihrer Gesellschaften wegen ausgelacht, ohne jeden Grund. Ach ja, das war es!

2
Hier lag das Kindheits- und Jugendland. Und auch wenn ich mich weit von ihm entfernt hatte im Laufe des Lebens, wenn ich es in der Zeit intensivsten Reisens in dem Jahrzehnt nach dem Mauerfall und der Zusammenlegung der beiden Deutschlandteile – eines nachholenden, beinahe hysterischen Reisens- immer länger vergessen und zuletzt auch verloren hatte, war mir jeder Anlass zur Heimkehr lieb, und es brauchte nur Stunden, da wurde ich wieder schwach, überwältigt vom Heimatgefühl. Aus einem unbestimmten Drang heraus war ich seit der Befreiung immerfort auf der Flucht, aber kaum in Hellerau angekommen, sank ich sofort in Kindheitstiefen zurück.
3
Alma Mahler-Werfel schreibt in ihren Erinnerungen „Mein Leben“ 1960: „Mir war im Sommer des Jahres vorher <Wir wollen nicht verweilen> in die Hände gefallen. Es war das erste Buch, das mir von Theodor Däubler sehr gefiel, ja, ich war hingerissen davon. Ich schrieb an Jakob Hegner …. , er möge mir zehn Exemplare von diesem Buch und weitere zehn Exemplare von Claudels <Goldhaupt> zusenden. Ich wollte in meiner Begeisterung diese Bücher an meine Freunde verteilen. Und so saß ich eines Winterabends allein ….., als es läutete und Jakob Hegner zur Tür hereinkam mit den Worten: <Ich muß mir doch den Menschen anschauen, der solche Bücher heute zwanzigmal bestellt. Dies ist mir in meiner Laufbahn als Verleger noch nicht vorgekommen.> Hegner gefiel mir.“
4
Er litt. Trotzdem, wenn die Gottheit es ihm vergönnt hätte, Tochter und Freund zurückzubekommen, dafür aber auf Sura zu verzichten, er hätte Sura behalten und Tochter und Freund preisgegeben. Seitdem es kein Zurück mehr gab, hatte er sich sinnlos in seinen Kampf verbissen. Er hatte sein Geld und sein Gut dafür eingesetzt, seine Würde, seinen Namen, die Zugehörigkeit zur westlichen Zivilisation, seine Tochter und seinen Freund, und er war bereit, wenn es sein mußte, noch mehr dafür zu opfern, Fuß, Hand, Augapfel, Leben.

5
„Es ist doch schon spät“ hörte er sich selbst sagen und es war, als schwebten seine eigenen Worte einige Augenblicke vor ihm in der Luft, ehe sie im Licht des kleinen Mondes im Fenster zerplatzten. Er spürte einen hellen Schmerz in der Brust und sah zu, wie sein Oberkörper langsam nach vorne sank und sein Kopf mit der Wange auf der Tischplatte zu liegen kam. Er hörte sein eigenes Herz. Und er lauschte der Stille, als es zu schlagen aufhörte. Geduldig wartete er auf den nächsten Herzschlag. Und als keiner mehr kam, ließ er los und starb.
6
Es gab Tage, an denen es schwerer fiel, nur auf das zu sehen, was war. Nicht zurück, nicht vor. Nur auf das, was eben war. Weil ja auch alles, was gerade war, nicht aus dem Nichts kam und nicht ins Nichts ging. Alles hatte eine Geschichte. Selbst Dinge, die sich nicht bewegten, bekamen eine Geschichte.
Was hatte das Mädchen für eine Geschichte? Sie wollte eigentlich nicht darüber nachdenken, aber das ging nicht. Das Mädchen war da und mit ihm eine Geschichte. Da waren die Narben an den Beinen. Manche hatten außen Narben, manche innen.
7
Gewohnheit kann etwas Schreckliches sein. Zu anderen warst du höflich, aber deiner Frau gegenüber kam alles, was du gesagt hast, mürrisch heraus. Manchmal hast du sie sogar beschimpft. Du hast dich benommen, als ob irgendwo geschrieben stünde, dass man mit der eigenen Frau nicht höflich sprechen darf. So warst du zu ihr.
8
Ende Juni nahm ich meinen Urlaub. Ich fuhr an die See. Mit Henry hatte ich vereinbart, dass wir den Urlaub getrennt verleben. Ein zeitweiliges Alleinsein, ein Abstand von allen eigegangenen Verpflichtungen, ein Urlaub von der Wirklichkeit. Uneingestanden wohl auch die Furcht vor allzu großer Nähe, dem Verlust an Fremdheit, den ein für Wochen tägliches und stündliches Zusammenleben mit sich bringen würde. Die Vorstellung, im Urlaub Tag für Tag, vierundzwanzig Stunden auf einen anderen Rücksicht zu nehmen, war mir unerträglich.
Ebenso der Gedanke, ein anderer müsse sich meinetwegen irgendwie einschränken.
9
Er ging Wort für Wort , Buchstabe für Buchstabe, Satzzeichen für Satzzeichen durch das Heft. Er sprach von Hohlräumen zwischen den Worten, er prüfte ihre Länge, ihr Maß, ihren Takt. Er fragte die Sätze nach ihrem Sinn, kettete die Anfangsbuchstaben der Verben, der Substantive, der Adjektive aneinander und schrieb neue Worte in sein altes Heft. Er strich die Satzzeichen und gab den Sätzen neue Sinne. Er strich die Kommas, er sagte , Kommas seinen die Sollbruchstellen der Sätze, die Wendepunkte der Gedanken. W. sprach von Baumgraphen wie von alten Freunden und strich wie ein Magier übers Papier, als ob da nun ein Kaninchen heraushüpfte oder ein Hut oder Paul gar selbst. So zitierte er auch einzelne Wörter. Grand. Husten. Kater.
Auflösung
1 Aus: Virginia Woolf: Mrs. Dalloway. Leipzig: Insel 1972 S. 150
2 Aus: Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop. Berlin: Suhrkamp 2015 S. 194
3 Aus: Hans-Jürgen Safert: Hellerau. Die Gartenstadt und Künstlerkolonie. Dresden und München: Thelem 2022. S. 57
4 Aus: Lion Feuchtwanger: Der falsche Nero. Berlin: Aufbau 1960 S. 231
5 Aus: Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Berlin: Hanser 2014 S. 148 / 149
6 Aus: Ewald Arenz: Alte Sorten. Köln: DuMont Buchverlag 2019. S. 49
7 Aus: Kyung-Sook Shin: Als Mutter verschwand. München, Zürich: Piper 2014 S. 129
8 Aus: Christoph Hein: Der fremde Freund. Drachenblut. Novelle. Frankfurt a. M. Suhrkamp Taschenbuch 2002. S. 63
9 Aus: Charlotte Gneuß: Gittersee. Roman. Frankfurt/M.: S. Fischer 2023 S.176
Unsere Weihnachtsfeier am 05.12.2024

Von links: Frank Richter, Cornelia Schäfer, Petra Metzelthin, Birgit Heinrich, Sabrina Hampel, Anne Wolf, Matthias Herklotz, Berit Weis
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SLUB/ Deutsche Fotothek , Martin Bochmann
Ein Roman, der lange vor der Wende in einem Stadtteil Dresdens spielt. Und er hat nichts mit den Geschehnissen in Gittersee im Zusammenhang mit dem geplanten Bau des Reinstsiliziumwerkes kurz vor der Wende zu tun. Geschickt verknüpft die Autorin eine typische ostdeutsche Geschichte mit dem alltäglichen Auskundschaften der Bevölkerung durch die Stasi mit Elementen eines Krimis. Langsam baut sich die Katastrophe bis zum unerwartenden Finale auf. Detailreich und bestens recherchiert beschreibt Gneuß DDR-Alltag. Flüssig und witzig aus der Sicht der Protagonistin, auch in deren Jugendjargon geschrieben, liest sich das Buch sehr gut.
Der Roman beginnt mit dem katastrophalen Ende. Das merkt man erst, wenn man ihn gelesen hat.
Karin „Komma“ Köhler ist 16 Jahre alt und wohnt 1976 mit ihren Eltern, der zweijährigen Schwester und der Großmutter im Dresdner Stadtteil Gittersee. Der Großmutter, einer sehr unangenehmen Person, missfällt es, wenn Karin von ihrem Freund Paul Forster mit dem Motorrad abgeholt wird. Karin ist voll im Haushalt ihrer Familie eingespannt, nicht nur durch verschiedenste Arbeiten, auch muss sie häufig ihre kleine Schwester beaufsichtigen. Letzteres macht sie aber sehr gern, da sie die Kleine offensichtlich sehr mag. Rührend sind z.B. auch die Kosenamen, die sie dieser gibt.
Paul ist mit Robert Rühle befreundet. Beide arbeiten unter Tage in einem Steinkohlebergwerk (Willy Agatz). Sie wollen eines Tage zu einer Klettertour aufbrechen, Karin soll auch mit, wagt aber nicht, ihre Eltern um Erlaubnis zu fragen, da sie über Nacht wegbleiben müsste. Außerdem muss sie auf ihre kleine Schwester aufpassen.
Am nächsten Tag wird Karin von den beiden Stasi-Offizieren Hamm und Wickwalz zu einer Vernehmung abgeholt. Paul hat Republikflucht begangen, und Karin drohen Schwierigkeiten wegen Beihilfe. Man unterstellt ihr, von Pauls Absichten gewusst zu haben. Ihr entging zwar nicht, dass Paul viel Bargeld in einem Reifen seines Motorrads versteckte, aber dazu erklärte er, dass er Kletterzeug kaufen wolle. Karin ahnte tatsächlich nichts von seinen Plänen. Von Rühle erfährt sie dann, dass sich die beiden Männer über die sächsisch-tschechische Grenze absetzen wollten. Bei Bösenbrunn kampierten sie. Am nächsten Morgen wurde Rühle aus dem Zelt heraus festgenommen, Paul war weg.

Plakat zur Verfügung gestellt: Frank Richter / Foto: Cornelia Schäfer
Immer wieder begegnet Karin dem Stasi-Offizier Wickwalz. Er ist freundlich, und durchaus angenehm, und sie fühlt sich von ihm ernst genommen.
In einem Schuppen der Gartenanlage, in der sich Paul und Rühle häufig trafen, findet Karin ein von den beiden benutztes Notizheft. Das übergibt sie, sogar ungefragt, Wickwalz. Bei einem Gartenfest beobachtet Karin, wie die mit ihr befreundete Mitschülerin Marie Limbo tanzt, während zwei andere Mädchen ein Seil spannen. Die Mädchen spannen tückisch das Seil tiefer. Marie erschrak, bewegte sich, und das Seil schnitt in den Hals. Die Mitschüler grölen. Aufmerksam beobachtet Karin die Szene, sie wird zum Ende des Romans eine ähnliche Aktion aus Not machen. Das letzte Schuljahr beginnt. Karins Mutter verlässt die Familie und zieht zu ihrer Freundin Ute in einem anderen Stadtteil von Dresden. Der Vater beginnt zu trinken.
Wickwalz drängt Karin geschickt, eine Verpflichtungserklärung als informelle Mitarbeiterin der Stasi zu unterschreiben und sie verspricht, ihm nichts zu verheimlichen. Der Vater von Marie, ihrer besten Freundin, lebt im Westen. Maries Vater kannte Pauls Adresse, Karin will ein Paket an Paul über Maries Tante Hedwig schicken. Sie berichtete darüber in einem Brief an Rühle, dieser wurde von der Stasi geöffnet. Wickwalz weiß nun, dass Karin zwar Marie und deren Angehörige verriet, aber Entscheidendes verschwiegen hatte. Tante Hedwig wird verhaftet. Es könnte jetzt sehr gefährlich für Karin werden. Sie verabredet ein Treffen mit Wickwalz im Wald, spannt auf dem Weg, den er immer pünktlich nimmt, zwischen Buchen ein Drahtseil in der Höhe des Halses. Er stürzt. Was ihm geschehen ist, lässt die Autorin offen. Hat er es überhaupt überlebt? Rühle entfernt das Drahtseil. Abend fragt der Vater Karin nach dem Draht.
Vita Charlotte Gneuß
Charlotte Gneuß wurde in Ludwigsburg geboren, nachdem ihre aus Dresden stammenden Eltern die DDR halbes Jahr vor dem Mauerfall verlassen hatten. Sie absolvierte zunächst eine Buchbinder-Ausbildung, bevor sie an der Evangelischen Hochschule in Dresden Soziale Arbeit studierte. 2017 studierte sie am Literaturinstitut Leipzig und im Anschluss daran an der Universotät der Künste Berlin Szenisches Schreiben. Sie lebt in Berlin.
Neben ihren anfänglichen Veröffentlichungen in Literaturmagazinen schrieb sie nach Einladung in Textwerkstätten wie der Jürgen Ponto Stiftung und der Kölner Schmiede. Im Wochenmagazin Die Zeit schrieb sie Gastbeiträge, so zu den Themen Schwangerschaftsabbruch und Arbeitswelt. Gneuß ist Gewinnerin des Leonhard-Frank-Stipendiums für neue Dramatik.
Sie erhielt bereits zahlreiche Auszeichnungen und Nominierungen.
Im August 2023 erschien ihr Debütroman Gittersee.
Im Bestand der SLUB vorhanden:
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