Auf der Suche nach dem eigenen Raum. Topographien des Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800
Michaela Krug untersucht in ihrer klugen Dissertation, wie Romanautorinnen um 1800 ihre Protagonistinnen im Raum agieren lassen, genauer: in den separate spheres der bürgerlichen Geschlechtertheorie. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Rousseau, Humboldt oder Campe—um nur einige Theoretiker zu nennen—ausformulierte bürgerliche Geschlechtertheorie sieht bekanntlich Männer für das öffentliche Leben, für das "Außen," Frauen für das private Leben, für das "Innen" bestimmt. Karin Hausen hat das als Spiegelung einer historischen Entwicklung, der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, interpretiert und das "Aussagesystem der 'Geschlechtscharaktere,'" das Frauen und Männern polare und zugleich komplementäre Eigenschaften—hier Schwäche und Emotionalität, dort Stärke und Rationalität—als naturgegeben zuschreibt, als das folgenreiche Deutungsmuster für diese Aufteilung der gesellschaftlichen Bereiche auf die beiden Geschlechter beschrieben. (Karin Hausen, "Die Polarisierung der 'Geschlechtscharaktere.' Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben." Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Hrsg. von Werner Conze. Stuttgart: Klett, 1976: 367–93.) Der bürgerlichen Deutung des Geschlechterverhältnisses ist damit eine normative Topographie des Weiblichen zu eigen, die Frauen in einem Innen, im Haus verortet. Die Schwelle des Hauses wird zu einer Art Demarkationslinie zwischen den separate spheres der Geschlechter, auch wenn die realen bürgerlichen Frauen diese Schwelle dauernd überschritten, sei es um in die Kirche oder spazieren zu gehen, Besuche abzustatten—die bürgerliche Kultur war eine gesellige Kultur—oder zu reisen.
Krug untersucht vier Romane von Frauen, die sie unter dem Kriterien ausgewählt hat, daß in ihnen für die Zeit repräsentativ Raum und weibliche Identität thematisiert werden, wobei das Repräsentative—es wird nicht weiter erläutert—wohl in zeitgenössischer Rezeption, also darin, daß die Romane rezensiert wurden, gesehen wird. Auf diese Rezensionen wird allerdings in der Analyse und Interpretation der Texte kaum Bezug genommen. Neben dem ersten deutschsprachigen Roman einer Frau, Sophie von LaRoches (1731–1807) Fräulein von Sternheim (1771), behandelt Krug mit Caroline von Wolzogens (1763–1847) Agnes von Lilien (1796/97) und Therese [End Page 110] Hubers (1764–1829) Die Familie Seldorf (1795/96) drei Romane von bekannten Autorinnen, während Die Honigmonathe (1802) mit Caroline Auguste Fischer (1764–1842) eine weitgehend vergessene Autorin hat.
Romane werden durch Handlungen in Gang gehalten; wäre das Fräulein von Sternheim immer im Haus geblieben, wäre die Geschichte schnell erzählt gewesen und hätte vermutlich wenig Interesse beim Publikum gefunden. Die Autorinnen lassen die Protagonistinnen das Elternhaus, meist ein beschauliches Pfarrhaus, verlassen, ein Erziehungsinstitut besuchen, an den Hof—immer ein Ort von Ranküne—geraten; eine Heldin, Clara Seldorf, begibt sich sogar in die Wirren der Französischen Revolution. Alle suchen die Natur, sei es in Garten, Park oder Wald—und alle finden sich dabei, so Krug, mit "geschlechterdifferenten Raumregeln" (12) konfrontiert. Das Außen, den Bereich jenseits des Hauses, sieht Krug in den Romanen als "das Fremde" thematisiert, in dem die in der Sozialisation erworbenen "kognitiven Karten" nicht greifen, den Protagonistinnen die Orientierung fehlt bzw. sie sich neu orientieren müssen. In den Romanen werde damit, so Krug, "die Schwierigkeit von Frauen deutlich, die Fremde als identitätsstiftenden Raum bürgerlicher Selbstermächtigung" zu besetzen. Zugleich stehen, auch wenn das der bürgerlichen Geschlechtertheorie zuwiderläuft, in allen Romanen "die individuellen Selbstbestimmungsversuche der Frauen" (345) im Zentrum.
Die Studie ist in sechs Teilen angelegt. In ihrer Einleitung stellt Krug ihre zentrale analytische Kategorie Raum dar. Ihren methodischen Ansatz skizziert Krug, indem sie im Rekurs auf kulturgeographische und sozialwissenschaftliche Theorien ihr Verständnis von Raum als Sozialraum entfaltet, dem die Funktion zukomme, für die Ausbildung von sozialer und individueller Identität konstitutiv zu sein. Für ihre Untersuchungszeit, das 18. Jahrhundert, geht sie auf die Bedeutung von Raum für die bürgerliche Gesellschaft und auf dessen "Darstellung und Funktion in der Literatur" ein. Raum stellt für Krug eine Chiffre für Gesellschaft dar, die sie dazu nutzen will, "weibliche Lebenswirklichkeiten und gesellschaftliche (Verdrängungs)prozesse aufzuspüren" (12). Auch wenn "Verdrängung" in Klammern steht und die Studie um die Frage zentriert ist, wie die Protagonistinnen sich außerhäusliche Räume aneignen bzw. anzueignen versuchen, argumentiert Krug in erster Linie repressionstheoretisch.
In den nächsten vier Kapiteln wird jeweils ein Roman untersucht. Es ist beeindruckend, wie Krug die Topographien des Weiblichen in präziser (manchmal auch etwas umständlicher) Textarbeit erschließt und dabei unterschiedlichste Bedeutungshorizonte von Raum in Exkursen z.B. über den Horizont, Badereisen oder bürgerliche Gehkultur einfließen läßt. Neugierig kann einen Fischers Roman machen, weil hier im Unterschied zu den anderen Romanen eine Wilhelmine die für das weibliche Geschlecht geltenden Raumgrenzen munter und sich dazu apart äußernd überschreitet—bis dahin, Deutschland zu verlassen, weil sie anderswo, in Italien, als Frau besser und freier leben zu können meint. In ihrer Zusammenfassung diskutiert Krug die Romane vergleichend und arbeitet heraus, daß sie bei allen Unterschieden im Einzelnen ihre Gemeinsamkeit darin finden, Frauen "auf der Suche nach dem eigenen Raum" zu zeigen. Virginia Woolf wird im 20. Jahrhundert die Thematik in A Room of One's Own weiterverfolgen, dann aus der Perspektive der Autorin.