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Lessings Skandale

Lessings Skandale. Herausgegeben von Jürgen Stenzel und Roman Lach. Tübingen: Niemeyer, 2005. vii + 230 Seiten. €64,00.

Die Aufsätze dieses Bandes entwickelten sich aus einer Tagung der Lessing-Akademie, die im September 2004 in Wolfenbüttel stattfand und sich dem Problem der Skandale im Leben und Schreiben Lessings widmete. Es gibt Skandale Lessings, die—wie die Herausgeber in einem Vorwort behaupten—"gelegentlich bis an die Grenze des Kriminellen" reichten und assoziiert wurden mit: "Diebstahl (Druckbogen Voltaires), Erpressung (Lange, Jöcher), Bestechlichkeit (Märchen von den Tausend Dukaten), Unzucht mit Abhängigen (angeblicher Inzest mit der Stieftochter)," dazu "oft fluchtartiger Ortswechsel, Kotzsche Händel, Fragmentestreit," und "Kleinere Zerwürfnisse" (vii). Man mag bei all diesen Andeutungen im Vorwort überrascht und auch neugierig sein, mehr zu erfahren; doch nur einige dieser genannten Vorwürfe gegenüber Lessing werden dann auch im Buch konkret behandelt.

Für diese enttäuschte Neugier wird man teils entschädigt durch ausgewogene und interessante theoretische Überlegungen, wie sie im Umfeld des Themenkomplexes besonders die ersten drei Kapitel des Buches bieten. Beantwortet werden solche grundlegenden Fragen, was eigentlich ein Skandal sei, welche Bedingungen dazu gehören, und wie Leben und Werk eines Autors, insbesondere Lessings, zu differenzieren und dann doch wieder zu korrelieren sind.

Das erste Kapitel von Hugh Barr Nisbet zum Thema "Probleme der Lessing-Biographie," das zweite von Burckhard Dücker "Der Fragmentestreit als Produktionsform neuen Wissens—Zur kulturellen Funktion und rituellen Struktur von Skandalen" und das dritte Kapitel von Anett Lütteken "Souper aux filles: Oder wie man ein öffentliches Ärgernis wird" bieten wertvolle Aspekte zu diesem allgemeinen Themenkomplex. Dokumentiert werden widersprüchliche Tendenzen der Lessing-Biographik, die positivistische und idealistische, und hinterfragt werden sowohl die totale Abkoppelung als auch die vereinfachende Gleichschaltung von Leben und Werk, wobei einige grundsätzliche Fragen der Literaturtheorie und der sachgerechten Verwendung des Skandalbegriffs in einem weiteren Zusammenhang und insbesondere mit Blick auf Nathan der Weise zu Wort kommen. Etwas verspielt und mit Genuß liest sich das Kapitel von Anett Lütteken, die Hugo von Hofmannthals Rosenkavalier, Thomas Manns Rede über Lessing und Mandevilles Fable of the Bees herbeizitiert, um zwischen aktiven und passiven Skandalen zu unterscheiden, die didaktische Wirksamkeit von literarischen Skandalen klar zu machen, und somit Lessings Bereitschaft zur Polemik [End Page 106] und innovative Freude an der Symbolkraft der von anderen inszenierten Ärgernisse abzugrenzen und in ein geradezu strahlendes Licht zu rücken. Aufschlußreich ist weiterhin Wilfried Barners Kapitel "Lessings Fluchten" zu Lessings oft abruptem und geheim gehaltenem Verschwinden, was jeweils mehrschichtige Gründe hatte. Die "Flucht" aus Berlin Anfang November 1760 galt deshalb als "die skandalöseste," weil Lessing schon nationale literarische Prominenz darstellte, in Berlin "öffentlich" lebte und zugleich solche Freunde wie Mendelssohn, Nicolai, Ramler und Voß, nicht nur seine Hauswirtin, mit dem Verschwinden überraschte. Goethes kritische Andeutungen in Dichtung und Wahrheit im Kontext seiner "Würdigung" Lessings sind nicht ohne Spitze und haben gewiß zu einer weiteren Skandalisierung Lessings beigetragen (71). Gesundheit, Geldnot und Wunsch nach Rückzug und Ungebundenheit haben verständlicherweise auch eine jeweilige Rolle gespielt.

Hugh Barr Nisbet kommentiert in seinem Aufsatz "Lessings Umgang mit Außenseitern," was für ungewöhnliche soziale Beziehungen Lessing hatte, und er gibt Einblick in eine Sphäre, die bisher der Forschung vorenthalten wurde. Er kommentiert: "Aber nachdem die idealistische Tendenz schon bei Mendelssohn und Schiller, ja bereits in Herders Nachruf auf das Todesjahr die Vorherrschaft gewonnen hatte, wurde die weniger ideale Seite [. . .] mit Ausnahmen bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts regelmäßig verschwiegen, heruntergespielt, entschuldigt, oder verschönert" (7). Er gibt nun eine illustre Reihe von Gegenbeispielen. Edward Batley beschreibt Lessings "Skandalöse Bibellektüre" und gibt Einblicke in hochspannende theologische Debatten im Umfeld von Lessing. Jörg Wesche konzentriert sich auf Lessings Problemkomödie Die Juden in seiner anregenden Untersuchung zu Verstellung und Enthüllung als provokative Strukturprinzipien im Werk Lessings. Nikola Kaminski widmet ihre Studie dem Thema "Wie in einer Partie Karten mit dem Fräulein von Barnhelm und dem Chevalier de la Marlinière der Major von Tellheim das Große Los zieht" und auch Helmut Schmieds Aufmerksamkeit gilt besonders Lessings Minna in seinem Aufsatz zum Thema "Rhetorischer Imperialismus," ohne jedoch die Debatten zu diesem Thema mit Lessing als Exponenten in den USA, insbesondere in den Werken W.J.T. Mitchells, auch nur anzudeuten.

Das letzte Kapitel von Jürgen Gunia hat die Überschrift "Aufklärung über Langsamkeit? Lessing und der Skandal der Zeit im 18. Jahrhundert" und zeigt Lessings vielschichtigen Beitrag zur Moderne mit Blick auf das Thema Zeit und auch in Hinsicht auf das wichtige Buch von Reinhart Koselleck Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation (2000). Bei Lessing gilt nach Gunia "Zeit als Skandal," wobei er dem Beschleunigungsprogramm der Moderne das Gegenmodell "Übereile dich nicht" durch die Stimme der Freimaurer in Ernst und Falk entgegenhält, für eine "Ethik der Langsamkeit" spricht (191) und schließlich, so das Fazit Jürgen Gunias, "Verlangsamte Beschleunigung" zu einem neuen Bewußtsein werden läßt, wobei sowohl der "Skandal der Ausführlichkeit" als auch die "Schnelligkeit der Erkenntnis" als Themen Lessings hervorgehoben werden.

Abschluß dieses Bandes bildet ein ausführliches Literaturverzeichnis, sowohl der Quellen als auch der Sekundärliteratur, und ein brauchbares Register der Namen und der Werke Lessings. Den Herausgebern Jürgen Stenzel und Roman Lach ist es gelungen, Lessing im Kontext der europäischen Fama aus solchen Blickwinkeln zur Diskussion zu stellen, die bisher weitgehend verdrängt und unbekannt waren. Dies ist [End Page 107] eine wertvolle, anregende und empfehlenswerte Studie zum Werk Lessings und zu wichtigen Aspekten seines provokanten Beitrags zur Moderne.

Beate Allert
Purdue University

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