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Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800

Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie und Publizistik um 1800. Von Andrea Albrecht. Berlin: de Gruyter, 2005. 442 Seiten. €108,00.

Ob Weltstaat, Assoziation freier und gleicher Weltbürger, Weltbürgerrecht oder kosmopolitische Ethik der Gastlichkeit, die Theoretiker dieser und ähnlich strukturierter politischer Fluchtpunkte einer zweiten Moderne (von Jürgen Habermas und Ulrich Beck bis zu Jacques Derrida, Pierre Bourdieu und Julia Kristeva) finden ihre Ausgangspunkte im (weitgehend vor-nationalistischen) Weltbürgerdiskurs um 1800. Was aber, so fragt Andrea Albrecht in ihrer Göttinger Dissertation, ist tatsächlich dran an diesem kosmopolitischen Erbe des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts? Denn schon damals gab es selbstverständlich keinen einheitlichen Kosmopolitismusbegriff, sondern durchaus kontroverse Kosmopolitismen, was in den aktualisierenden Rückübertragungen weitgehend verloren gegangen ist. Darum hält Albrecht eine umfassende und detaillierte Aufarbeitung der Weltbürgerdiskurse des 18. Jahrhunderts für unausweichlich, bevor die Frage beantwortet werden kann, ob ein post-nationales Eu-ropa tatsächlich an die Kosmopolitismusbegriffe der vor-nationalen Epoche anknüpfen kann. Das Ergebnis ist eine sorgfältig recherchierte und klug argumentierende Studie, die einen prominenten Platz in der Historiographie kosmopolitischen Gedankenguts beanspruchen kann.

Wie kaum anders zu erwarten, liegt die Schwierigkeit von Albrechts Untersuchung in der Justierung und Gewichtung von empirischer Sammlerleidenschaft und aktuellem philosophisch-politischem Interesse. Albrecht schlägt sich im Zweifelsfall auf die Seite der Empirie und stellt—schon allein aus Gründen der historischen Kontextualisierung—auch solche Weltbürgervisionen vor, denen zumindest ich nichts mehr abgewinnen kann. Dabei droht das theoretisch politische Interesse der Abhandlung für den Leser bisweilen verloren zu gehen, was natürlich auch den institutionellen Gepflogenheiten deutscher Dissertationen zuzuschreiben ist. Dennoch sei der Hinweis erlaubt, daß z.B. Anthony Appiah etwa zeitgleich unter Beweis gestellt hat (Cosmopolitanism: Ethics in a World of Strangers. New York: Norton, 2006), daß man—getrieben von aktuellen politischen Nöten—auch auf einer eklektischen historischen Fundierung sinnvoll und fesselnd über die Geschichte und Aktualität des Kosmopolitismus schreiben kann.

Die Stärke von Albrechts Darstellung liegt dagegen in ihrem ansatzweise enzyklopädischen Aufbau, der es am historischen Detail interessierten Ideengeschichtlern erlaubt, die Wege und Irrwege der Weltbürgerdiskurse des 18. und frühen 19. Jahrhunderts systematisch nachzuvollziehen. Nach einem begriffsgeschichtlichen Abriß folgt Albrecht ihren Autoren und nimmt wie diese Rousseaus Weltbürgerkonzeption zum intellektuellen Ausgangspunkt. Schon bei Rousseau stellt sich die Frage, ob das Weltbürgertum als Alternative zur Nation oder aber als komplementäre Orientierung aufzufassen ist. Im Kontext der deutschen Kleinstaaten bekommt diese Frage eine andere politische Gewichtung und wird von Wieland, Schiller, Knigge, Reinhold, [End Page 108] Bouterwek, Jean Paul, Kant, Fichte, A.W. Schlegel, F. Schlegel, Arndt, Pahl, Aretin und Eichendorff auf je spezifische Weise theoretisch angereichert. Das längste Kapitel (etwa hundert Seiten) widmet Albrecht Jean Paul, den sie in Herders Tradition sieht. Wie dieser drängt Jean Paul auf jeder Ebene (vom einzelnen Bürger bis zur Nation) auf eine partikularisierende Individualisierung, die auch noch das Ideal von Mensch und Staat umfaßt, insoweit (per definitionem homogenisierende) Idealisierungen in diesem Denken überhaupt noch Raum finden. Kein Endliches kann Idealität im Sinne von Vollkommenheit verkörpern, sondern bestenfalls einzelne Aspekte. Selbst die Engel können nicht ohne ihr jeweils bestimmtes Ich gedacht werden. So auch auf der Ebene von kommunalen und staatlichen Systemen: Weltbürgerlichkeit kann sich letztlich nur auf lokaler Ebene konkretisieren, muß sich individuieren; mit anderen Worten, Weltbürgertum ist immer auch Kleinstädterei. Diese Spannung ist im 18. Jahrhundert natürlich nirgends augenfälliger als in den kulturellen Eliten der deutschen Staaten. Treibt die kleinstädtische Enge (zumal in Jean Pauls Romanen) eine weltbürgerliche Erweiterungssehnsucht hervor, so strebt die weltbürgerliche Befindlichkeit andererseits nach häuslicher Partikularität.

Während Jean Paul den Raum bekommt, den er verdient, kommt Kants politische Philosophie in "weltbürgerlicher Absicht" meines Erachtens etwas zu kurz. Das muß überraschen, weil es in erster Linie die Erblast seiner politischen Aufsätze und rechtsphilosophischen Vorstöße ist, an der sich die gegenwärtigen politischen Debatten (bis in die imperialistischen Absetzungsmanöver der Neocons hinein) formulieren. Zwar gesteht Albrecht Kant zu, die Kosmopolitismusdebatte in einen rechtspragmatischen Diskurs überführt und zu einem bis heute wirkungsmächtigen Höhepunkt gebracht zu haben, sie verzichtet aber darauf, die spezifische Politisierung von Kants universaler Geschichtsphilosophie, nämlich seine föderalistische Vision einer Weltrepublik (verstanden als Republik der Republiken) zu entfalten. Wobei im übrigen (mit Bezug auf die Neocons) anzumerken ist, daß die potentielle Problematik dieser politischen Festschreibung im generell wenig beachteten zweiten Teil von Kants "Zum ewigen Frieden" bereits mit politischem Gespür beschrieben wird.

Der Kosmopolitismus war und ist ein Elitendiskurs, das ist eine der wichtigsten Einsichten, die Albrecht in ihrem bewundernswert konzisen Schlußkapitel entfaltet. Obwohl "die neuen Medien und die fortschreitende Globalisierung dem homo cosmopoliticus neue Erfahrungs- und Erlebnisbereiche eröffnet haben, die es möglich machen, auch andere Bevölkerungsschichten in eine kosmopolitische Lebenswelt einzubinden" (401), bleibt es aus Albrechts historischer Sicht (leider) weiterhin zweifelhaft, ob die Zukunft tatsächlich den "Neuen Weltbürgern" und ihren "Einwanderungsgesellschaften" gehört, die G. Pascal Zachary in seiner Studie mit dem gleichnamigen Titel beschreibt. "Welche Bedeutung kann die vielstimmige kosmopolitische Programmatik der Aufklärung," so fragt Albrecht abschließend mit Bezug auf Derrida, "für die gegenwärtig ebenso vielstimmig ausgerufene 'neue[] Aufklärung' des 'kommende[n] Jahrhundert[s]' haben?" (402). Alle gegenwärtigen Theoretiker einer kosmopolitischen Zukunft, so muß die Antwort notwendig lauten, hätten von einer breiteren und genaueren Auseinandersetzung mit den Kosmopolitismen des 18. Jahrhunderts profitiert. Während die einen (z.B. Beck) erst in Diskursen des späten 19. Jahrhunderts auf Problemstellungen stoßen, die bereits hundert Jahre früher genauer und zukunftsweisender erörtert wurden, führen politische Trivialisierungen des kosmopolitischen Erbes (Albrecht führt Sybille Tönnies als Beispiel vor) geradewegs [End Page 109] in neokonservatives Fahrwasser. Ernster zu nehmen sind für Albrecht einerseits die differenzierte Kantdebatte zwischen Habermas und Derrida und andererseits Kristevas Rückgriff auf die kontraktualistische Tradition der französischen Aufklärung. Allerdings zeigt nicht nur der Habermas/Derrida-Streit, sondern auch Kristeva, wie schwierig eine kosmopolitische Methodik selbst im abstrakten Erbediskurs der Philosophie auch heute noch ist, insofern Albrecht ihr nachweisen kann, daß sie ihrerseits die deutschen Theoretiker (insbesondere Herder und Kant) zu Unrecht zu pauschalen Gegenpolen für die Konstruktion einer eigenen (nationalen) Erbekonstruktion degradiert.

Bernd Fischer
Ohio State University

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